Artikel auf „Die Verpeilte“ und neue Seite | Kritzelnews

Ich habe für „Die Verpeilte“ einen Artikel über meinen Umgang mit dem Alkoholismus meiner Mutter geschrieben.

https://dieverpeilte.de/der-alkoholismus-meiner-mutter

EDIT: Die Seite ist derzeit online. Den vollen Text habe ich ans Ende kopiert. Siehe unten.

Und ich habe eine neue Seite zu meiner Kategorie „andernorts“ hinzugefügt, wo ich die „andernorts“-Beschreibungen von Twitter reinkopiert habe. Schreibt gerne eure Definition von „andernorts“, dann ergänze ich.


Von Alkohol, Schuld und Schweigen (erschienen auf DIE VERPEILTE)

Meine Familie war nie sehr gut darin, miteinander zu reden. Zumindest nicht über unsere Gefühle oder über das, was wirklich vorging. Über Schuld wurde bei uns hingegen stundenlang diskutiert. Ich habe viele Abende in meinem Zimmer gesessen, die Tür einen Spalt offen, und meine Eltern dabei belauscht, wie sie darüber diskutiert haben, wer schuld daran ist, dass ich zum Beispiel eine schlechte Note oder wegen irgendetwas Widerworte gegeben hatte. Erst haben sie sich gegenseitig Vorwürfe gemacht, bis sie sich schließlich darüber einig waren, dass es an den vielen Umzügen, die wir berufsbedingt wegen meinem Vater machen mussten, oder an falschen Freunden lag. Auch mit mir haben sie über Schuld geredet, vor allem meine Mutter, die mir die Schuld gab, wenn das Essen verbrannt war oder sie die Radiosender verstellt hatte und sich nicht mehr daran erinnerte. Schuld war allgegenwärtig, vor allem weil wir dann nicht über das eigentliche Problem in unserer Familie sprechen mussten: Den Alkoholismus meiner Mutter.

Ich habe schon sehr früh geahnt, dass etwas nicht stimmte. Meine Mutter war oft lauter als andere Mütter, sie hatte ständig Kreislaufprobleme und schwankte manchmal beim Laufen. Warum das so war, habe ich als Kind allerdings nicht verstanden. Weil niemand drüber geredet hat, habe ich es auch nie hinterfragt. Nicht einmal, als die Polizei meine Mutter nach Hause brachte, weil sie unter Alkoholeinfluss Auto gefahren war.

Ich war elf Jahre alt und saß in der Küche und machte Hausaufgaben. Es war Wochenende und noch vor dem Mittagessen, als meine Mutter in die Küche kam, hinter ihr zwei Polizisten. Mein Vater eilte ihr entgegen, sprach aber nicht mit ihr. Meine Mutter ging an mir vorbei, sagte, dass sie letzte Nacht schlecht geschlafen und deswegen einen Schnaps getrunken hatte, dann verschwand sie den Rest des Tages im Schlafzimmer. Mein Vater sprach vor der Tür mit den Polizisten, dann kam auch er rein und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Ich versuchte meinen Vater später zu fragen, was los war, aber er sagte, es ginge mich nichts an. Meine Mutter sagt nur, dass alle übertreiben würden und alles in Ordnung sei. Ich wusste nichts von der Existenz von Alkoholismus und dachte, dass meine Mutter wohl recht hatte, dass alles normal sei und ich zu Unrecht das Gefühl hatte, dass etwas nicht mit unserer Familie stimmte.

Erst später ist der Groschen gefallen. Zum einen habe ich angefangen Teenie-Serien zu schauen, in denen Alkoholismus thematisiert wurde, zum anderen gab es Ereignisse, die ich mir nichts anders erklären konnte, wie die „Flaschenfunde“. Wir waren gerade in eine andere Stadt gezogen, ich war vierzehn Jahre alt, da habe ich das erste Mal eine Flasche Mariakron hinter den Kissen auf meiner neuen Couch gefunden. Ich wusste in dem Moment nicht, was ich tun sollte, also ging ich zu meinem Vater und fragte ihn, ob er kurz in mein Zimmer kommen würde. Ich zeigte auf das Kissen und die Flasche. Mein Vater sprach kein Wort, nahm die Flasche an sich und ging. Ich weiß noch, wie ich dastand und überlegte, ob ich hinterhergehen und mit ihm reden sollte, aber mein Vater hatte mir mittlerweile oft genug klar gemacht, dass mich das Thema nichts anging, also machte ich den Fernseher an und sah das Vorabendprogramm. Statt darüber zu reden, reihte ich mich in das Schweigen ein.

Irgendwann brach meine Oma das Schweigen. Wir waren gerade dabei in der Küche Sauerkraut herzustellen, als meine Mutter sagte, sie müsse kurz in den Keller. Meine Oma erwiderte, dass sie auch hier oben ihren Alkohol trinken könne. Sie erzählte, dass meine Mutter wohl schon kurz nach meiner Geburt angefangen hatte zu trinken, dass dies aber etwas sei, um das sich mein Vater Sorgen machen müsse und nicht ich. Ich nahm kurz darauf auch allen Mut zusammen und fragte meinen Onkel, der zum ersten Mal den Begriff „Pegeltrinkerin“ fallen ließ. Laut dem deutschen Suchtportal ist ein Pegeltrinker, oder Delta-Trinker, jemand, der permanent trinkt, um einen gewissen Alkoholpegel aufrecht zu erhalten. Meine Mutter trank also immer wieder über den Tag verteilt soviel Alkohol, dass sie sich damit gut fühlte. Warum meine Mutter angefangen hatte, wusste mein Onkel nicht genau, er vermutete, dass es an meinem Vater lag, was wohl naheliegend für ihn war, da sich die beiden nicht leiden konnten. Auch er meinte, es sei nicht mein Problem und ich solle mich nicht damit beschäftigen. Sowohl mein Vater als auch der Rest der Familie, gaben mir das Gefühl nicht darüber reden zu dürfen. Es war Thema der Erwachsenen.

Ein paar Mal versuchte ich mit meiner Mutter zu sprechen, meist wenn sie sich mit meinem Vater gestritten hatte. Danach kam sie immer zu mir und klagte ihr Leid. Da ich in diesen Momenten das Gefühl hatte, dass wir ehrlich miteinander sprechen konnte, habe ich es einige Male angesprochen, doch sie meinte immer, dass das kein Problem mehr wäre. Sie habe früher ab und an getrunken, weil die vielen Umzüge sie mitgenommen hätten, aber das sei nun vorbei, wo sei Freundinnen gefunden habe. Ich wollte ihr jedes Mal glauben, wohl weil es leichter war.

Als ich verstanden habe, dass Alkoholismus nicht einfach von selbst aufhört, dass Betroffene Therapien, meist einen Entzug, brauchen (Suchtportal) war ich schon über zwanzig und von Zuhause ausgezogen. Ich hatte selbst über die Jahre eine Essstörung entwickelt und war nach meinem Auszug immer wieder in Therapien, in denen ich auch über meine Mutter sprach. Zuerst musste ich mir helfen, also fuhr ich den Kontakt herunter, bis ich ihn schließlich für ein paar Jahre vollständig abbrach. Auf beides reagierten meine Eltern mit Schweigen. Als ich mich stark genug fühlte und den Kontakt wieder aufnahm, habe ich mir vorgenommen ehrlich zu sein, meine Mutter anzusprechen, doch ich habe es immer wieder aufgeschoben. Das Schweigen in unserer Familie fühlt sich wie eine Mauer an. 

Ich bin jetzt 37 Jahre alt. Meine Mutter ist seit über 30 Jahren Alkoholikerin.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter angefangen hat zu trinken. Vielleicht war es, weil ihre erste Ehe gescheitert ist oder sie in der Ehe mit meinem Vater so viel alleine war. Laut Stiftung Gesundheitswissen glauben viele Angehörige von Alkoholikern, dass sie eine Mitschuld haben. Ich glaube zwar nicht, dass ich Schuld daran habe, dass meine Mutter Alkoholikerin geworden ist, obwohl sie laut meiner Oma kurz nach meiner Geburt begonnen hat, aber ich gebe mir eine Teilschuld, dass sie es noch ist. All die Jahre des nicht Ansprechens, des Totschweigens hätte ich dafür nutzen können, ihr zu helfen. Ich wünschte, ich hätte mehr getan, als nur auf Seiten von Drogenhilfen nach Antworten suchen und manchmal zaghaft das Thema zu streifen. Ich wünschte, ich hätte ihr ins Gesicht gesagt, wie viel Angst ich um sie habe und wie sehr sie mich verletzt hat. Ob das was geändert hätte, weiß ich nicht, aber ich habe das Thema Schuld verinnerlicht und werde den Gedanken nicht los, dass ich ihr hätte helfen können.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es. Mein Vater hat kürzlich angefangen, mit mir darüber zu reden. Ich glaube, es wird ihm zu viel, da meine Mutter immer verwirrter wird und körperliche Ausfallerscheinungen hat. Sie leben noch in einem Haus zusammen, aber in getrennten Schlafzimmern und auch sonst leben sie eher nebeneinander her. Immerhin waren mein Vater und ich gemeinsam bei einer Therapeutin von der Suchtberatung des Diakonischen Werkes [KS1] in unserer Stadt, die uns ein paar Tipps geben konnte. Mein Vater hat zugestimmt keinen Alkohol mehr für meine Mutter zu kaufen und ich habe meiner Mutter gesagt, dass sie meinen Sohn nur sehen darf, wenn sie nüchtern ist.

Es ist bisher nur eine Art Flüstern, dass sich zwischen uns abspielt, aber es ist besser als das Schweigen. Vielleicht wird daraus noch ein Gespräch, in dem es, statt um Schuldzuweisungen, darum geht, wie wir meiner Mutter helfen können.


 [KS1]Die Diakonie hat verschiedene Suchtangebote. Macht es Sinn sie als Ganzes zu verlinken?

10 Kommentare zu „Artikel auf „Die Verpeilte“ und neue Seite | Kritzelnews

  1. Andernorts ist die Welt der eigenen Fantasie. Dort gehe ich hin, wenn ich von der realen Welt eine Pause brauche.

    Das mit dem Alkohol: Respekt, dass du das so lange mitmachen konntest – egal ob unwissen oder nicht. Wenn selbst auf den Vater kein Verlass ist, wäre ich persönlich wahrscheinlich mit 18 abgezischt und dann auf „Nimmerwiedersehen“.

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    1. Habe ich ergänzte, danke! 🙂
      Ich bin mit 19 ausgezogen nach der Schule. Denke, länger hätte ich es „vor Ort“ auch nicht ausgehalten. Ein 30min Fahrabstand hat geholfen und später habe ich auch für einige Zeit den Kontakt abgebrochen. Einfach nie wieder mit ihr sprechen, fühlt sich falsch an.

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      1. Oder mit 19 😉
        Wer weiß, vielleicht hätte ich irgendwann auch mal wieder mit ihr gesprochen. Ich kann das ja nur fiktiv beantworten.

        Danke dir wegen dem Ergänzen. 🙂

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  2. Das ist ein sauguter Artikel, meinen Glückwunsch und meinen größten Respekt für die Offenheit und den Mut. Ich finde, du machst das richtig – Aufklärung und Entdämonisierung klappen nur, wenn man die Fakten nicht schönschweigt.
    Und außerdem: Kinder haben nicht die Verantwortung für das Fehlverhalten der Eltern, denn die sind die Großen und du warst die Kleine. Du hast nur Verantwortung deinem stolzen Zwerg gegenüber.
    Nachmittagsteegrüße, hustend 😷🤧🛋️🍵🥛

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