Die Decke | abc.etüden

Dies ist ein Text zu den abc.etüden von Christiane. Ziel ist es 3 Worte in 300 Zeichen unterzubringen. Die Schreibeinladung für die Wochen 14 + 15 beinhaltet die Worte „Erzählstoff, sanft, vibrieren“, gesponsert von mir. 😉

Die Decke

Für Henry war der Webstuhl ein Pinsel, mit dem er Bilder in Stoff malte. Er nannte seine Arbeiten „Erzählstoffe“. Bereits in zahlreichen Ausstellungen hatte er seine Arbeiten ausgestellt und war von Kritiker hoch gelobt worden, doch mit den Jahren schien er nachzulassen. Er wurde immer weniger ausgestellt und nahm immer mehr Privataufträge an. Er wurde gut bezahlt, aber die Arbeit erfüllte ihn nicht.

Gerade webte er eine Decke. Die Kundin wollte etwas Besonderes für ihren Enkel, was ihn durch sein Leben begleiten würde. Henry legte sich die passende Wolle bereit, doch fing nicht gleich an. Er hatte wenig Lust, obwohl er die Idee für die Decke wundervoll fand. Um sich zu motivieren, stellte er sich vor, wie der Junge sich freuen würde, doch seine Gedanken glitten zu seinem eigenen Sohn, der den Kontakt abgebrochen hatte. Er dachte an die gemeinsamen Zeiten im Zoo, wie er ihn als Baby in den Schlaf sang, wie er mit ihm heimlich vom Keksteig naschte, an seine leuchtenden Augen vor dem Weihnachtsbaum, an den Tag als er die ersten Schritte an seiner Hand ging und an den, als er ihm sagte, dass er ihn nicht mehr brauchte. Wie von selbst begann der Webstuhl zu arbeiten. Der Stoff vibrierte unter Henrys Fingern und die Farben begannen so hell zu leuchten, dass er nicht einmal das Licht anschalten musste, als die Sonne unterging.

Er arbeitete wie in Trance. Erst als er das letzte Schiffchen durch den Stoff gleiten ließ, kam er wieder zu sich. Leuchtend lag der Stoff vor ihm, erzählte von seiner Liebe, vom Bereuen und Vermissen, von der Nähe und der unerträglichen Ferne. Henry faltete den Stoff zusammen und srich sanft über den Stoff. Morgen würde er ihn versenden. Nicht an die Kundin, sondern an seinen Sohn. Hoffentlich würde er ihn verstehen.

22 Kommentare zu „Die Decke | abc.etüden

  1. Eine Decke mit dem Abriss des Vergangenen, seiner Fehlurteile, seiner doch andauernden Liebe, seiner Gefühle, dargestellt in so leuchtenden Farben, dass sie dem Sohn Mut machen wird, wieder die verlorene Bindung zu erneuern: was für eine tolle Idee!
    Ich vermute, Dein Kopfkissen hat mit Dir gesprochen?

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  2. Es gibt so viele Möglichkeiten der Kommunikation, und wir achten viele zu gering. Ich wünsche ihm, dass sein Sohn erreichbar ist, bevor es zu spät ist.
    Zauberhafte Geschichte, sehr emotional, sehr berührend. Man sieht die Decke vor sich … und den Weber irgendwie auch. Danke schön.
    Abendgrüße 😏😢🍷🥗👍

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  3. Ich wünsche ihm, dass der Sohn ihn versteht. Es ist schwer zu beurteilen, was dazu geführt hat, dass sich die Leben der beiden getrennt haben und sich der Sohn losgesagt.
    Der Stoff – egal wie viele Geschichten er erzählt – wird alte Wunden nicht heilen können, aber vielleicht eine Brücke bauen, über die eine vorsichtige Annäherung möglich ist. Der Weg ist weit. Für beide.

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  4. Ein wunderschöner Gedanke, liebe Katharina.
    Die Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle eines Leben in bunte Bilder verwoben – zu einer Kuscheldecke, die tröstet und Wege eröffnet zu neuem Schauen.
    Liebe Grüße
    Judith

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