Gespräche mit Rüdiger – Ein sinnvolles Leben | abc.etüden

Dies ist ein Text zu den abc.etüden von Christiane. Es ist Zeit für eine Extraetüdenrunde: Ziel ist es 5 Worte in 500 Zeichen unterzubringen. Die Schreibeinladung beinhaltet die Worte „Giraffe, mondsüchtig, suchen, Wetterbericht, ordentlich, irisieren“.

Ich wollte unbedingt mal was zu Hannah Arendt schreiben. Sie ist eine meiner Lieblingsdenkerinnen, aber es ist schwer sie kurz zusammenzufassen. Daher habe ich im Prinzip nur einen winzigen Teilaspekt herausgezogen und am Ende sogar nur 300 Wörter geschrieben. Aber egal, um Arendt gerecht zu werden, bräuchte ich wohl ein ganzes Buch.

Ein sinnvolles Leben

Es ist einer dieser nichts-will-funktionieren-Tage, als mir meine Kette reißt und die Perlen über den Küchenboden kullern. Ich seufze und betrachte die irisierenden Kugeln lustlos, wie sie so daliegen und wollen, dass ich sie wieder einsammle. Plötzlich geraten die Perlen in Bewegung und ich sehe eine Pfote durch die Balkontür schnellen. Rüdiger schiebt einige der Perlen unter den Kühlschrank, andere jagt er aus der Küche hinaus in den Flur.

„Vielen Dank für deine Hilfe. Da suche ich ja wenig, bis ich die wieder zusammen habe.“

„Gerne“, antwortet der kleine Kater und setzt sich demonstrativ vor seinen Napf.

„Du willst eine Belohnung für das Chaos?“

„Chaos?“, antwortet er.

Ich seufze resignierend. „Soll ich dir vielleicht erstmal dein Fell mit einem Handtuch trocknen? Laut Wetterbericht wird es zwar den ganzen Tag regnen, aber dann bist du immerhin mal kurz trocken.“

Rüdiger schüttelt den Kopf, immer noch auf den Napf starrend, den ich nun ordentlich vollmache. „Langsam verstehe ich warum Katzen Einzelgänger sind.“

„Du bist doch auch Einzelgänger“, nuschelt er mit vollem Mund.

„Das stimmt nicht so ganz. Mit sind nur manchmal Bücher lieber als Menschen. Beim Lesen bin ich frei.“

„Eigentlich genau das Gegenteil. Frei ist man eigentlich nur im sprachlichen Austausch mit anderen.“

 „Wer hat das denn behauptet?“ Ich frage, obwohl ich eine weitere Lehrstunde von Rüdiger befürchte.

„Hannah Arendt. Sie meint, dass man die menschliche Existenz erst in der Kommunikation mit anderen verwirklicht.“

„Ich glaube, man kann auch gut Mensch sein, wenn man nur genug Bücher hat“, antworte ich trotzig.

„Dann lebt man aber nach Arendt nicht in der Welt. Die Welt ist quasi nur noch Material für Produkte. Man arbeitet und konsumiert, damit man sich gut fühlen kann, aber glücklich wird man dadurch nicht.“

„Wie wird man denn nach Arendt glücklich?“, frage ich.

„Vielleicht kann man sagen, dass ein sinnvolles Leben ein glückliches Leben ist. Und dafür muss man die Welt so gestalten, dass sie ein lebenswerter Ort für die eigene und die nächsten Generationen ist.“

„Und wie macht man das?“

„Durch Handeln und Sprechen, im Miteinander mit anderen Menschen.“ Rüdiger schlingt den letzten Happen Futter hinunter.

„Aber es ändert sich ja nichts, wenn ich zum Beispiel mit dir spreche.“

„Nicht? Denkst du nicht darüber nach, redest vielleicht mit anderen drüber? Vielleicht änderst du deine Sicht auf die Welt und steckst andere an und die ändern dann ihr Leben. Nach Arendt gestaltet man am Ende so die Welt.“

„Sag mal, was macht denn so ein Katzenleben sinnvoll?“

„Wie bei Hunden, Mäusen, Affen, Giraffen und Eidechsen auch: Fortpflanzung.“

„Und?“, frage ich mit einem Augenzwinkern.

„Pflicht erfüllt. Daher kann ich mich jetzt auch vollgefuttert in dein Bett legen.“

Ich frage mich, ob Rüdigers Kinder genauso nervig sind wie er. Seine Pfotenabdrücke auf dem Boden schimmern, wie die im Raum verteilten Perlen. „Moment, du bist nass. Wehe du legst dich in mein Bett bevor du trocken bist.“ Als Antwort höre ich nur etwas das wie „zu spät“ klingt.

Literaturempfehlung:
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben

6 Kommentare zu „Gespräche mit Rüdiger – Ein sinnvolles Leben | abc.etüden

  1. Ich musste gerade daran denken, dass Sandra auf ihren Denkzeiten dazu auch was geschrieben hat, kennst du sie? Ich lass dir mal den Link da: https://denkzeiten.com/2022/05/20/hannah-arendt-vita-activa-oder-vom-tatigen-leben/
    Ja, so habe ich mir ein erfülltes Katzenleben vorgestellt: Dienerschaft daheim, die sich um das leibliche Wohl kümmert und das wilde Leben draußen, damit es auch nicht langweilig wird. 😼 Aber würde der Kater das wirklich als „sinnvolles“ Leben bezeichnen? Oder hinkt da nicht einfach die Übertragbarkeit? 🤔
    Wenn der Sinn menschlicher Existenz Kommunikation ist, dann ist es um die Welt jedenfalls nicht gut bestellt, finde ich, und die letzten Jahre waren schlechter denn je.
    Danke für den katzenphilosophischen Beitrag, ich sehe ihn vor mir, wie er Kugeln schlägt … 😉🐅
    Nachtgrüße 🥱😴🍵🌼👍

    Gefällt 2 Personen

    1. Ja, folge ihr. Hat mich sehr gefreut, dass es mehrere Arendt-Fans gibt. 😅 Klar, hinkt der Vergleich. Katzen haben ja keine Vorstellung von dem Selbst, dh die interessiert sinnvoll gar nicht. Ist ganz lustig, wie vieles man ad absurdum führt, wenn man Tiere „vermenschlicht“.
      Hm, es wird schon mehr kommuniziert, aber ich fürchte Arendt würde Social Media nicht gelten lassen. 😅
      Danke. Mittagsgrüße zurück. 😇

      Gefällt 1 Person

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