Zivilisationsurlaub

ff

Ich mach bis Sonntag Zivilisationsurlaub. Aus aktuellem Anlass ein alter Text:

5 Tage Metal-Festival oder wie man Urlaub von der Zivilisation macht

Der tägliche Umgang mit unseren Mitmenschen ist geprägt von gewissen Umgangsformen. Damit meine ich nicht „Bitte“ und „Danke“ zu sagen, sondern ein gepflegtes Äußeres, Bier erst nach dem Feierabend und das Verbergen von körpereigenen Gasen in Gesellschaft. Auf Metal-Festivals kann man das alles gepflegt über Bord werfen.

Tag 1: Der erste Tag eines Festivals zählt kaum als Zivilisationsurlaub. Man ist noch einigermaßen sauber. Frauen tragen Make up, Männer sind rasiert. Das erste Bier gibt es erst nach dem Aufbau, bei Männern oft begleitet mit dem Verlust der Oberbekleidung. Abends finden die ersten Konzerte statt, doch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Ankommen und Kennenlernen der Zeltnachbarn. Diese werden im Laufe des Festivals zu den besten Freunden oder, wenn sie eine schlechte Musikanlage oder einen schlechten Geschmack haben, zu den ärgsten Feinden. Außerdem gewöhnt man sich langsam wieder daran, wie laut so ein Rülps klingen kann.

Tag 2: Man gewöhnt sich nun auch an die Dixie-Klos, ist aber doch ab und an noch versucht, Spültoiletten aufzusuchen. Man erinnert sich daran, dass man Dixieklos meiden muss, aus denen zufrieden lächelnde Männer kommen. Essen wird noch gekocht. Bier macht etwa 30 Prozent der Nahrung aus. Einige spielen Flunkyball (Trinkspiel) und andere bieten auf Pappschildern Umarmungen an. Die ersten bedeutenden Konzerte laufen und man sieht etwa 90 Prozent der Bands, die man sehen wollte. Mittlerweile kennt man etwa 2 Prozent der Festivalbesucher mit Namen.

Tag 3: Dixieklos sind kein Problem mehr. Essen wird noch zubereitet, aber man weicht bereits auf die teuren Lebensmittel an den Essensständen aus. Bier nähert sich als Anteil an der Gesamtnahrung konstant den 50 Prozent. Am dritten Tag spielt mindestens eine Lieblingsband, die man unbedingt sehen muss. Insgesamt sieht man etwa die Hälfte der Bands, die man sehen wollte. Der Nacken vieler Besucher beginnt leicht zu ziehen, dank dem ständigen Mitwippen und Schlafen auf Luftmatratzen. Etwa 10 Prozent der Festivalbesucher zählt man nun zu den guten Freunden.

Tag 4: Wenn der Haufen in den Dixieklos über den Brillenrand schaut, geht man trotzdem noch drauf. Essen ist Nebensache, Bier gibt es genug. Die Fahrer beginnen zu jammern, weil sie am nächsten Tag nüchtern sein müssen. Bands sind Nebensache, man schafft optimistisch berechnet 30 Prozent. Das sind dann die wirklich guten Konzerte. Man fühlt sich durch den Kakao gezogen und sieht ein wenig wie ein sehr schmutziger Zombie aus. 15 Prozent der Festivalbesucher will man nächstes Jahr definitiv wieder treffen. Die sentimentale Phase beginnt, denn die Zivilisation naht raschen Schrittes. Abends will man groß Party machen und einige schaffen das auch. Der Rest verwandelt sich von lebendtot in nur noch tot.

Tag 5: Wenn es nicht regnet, ist man vollends sentimental, freut sich aber auf die Dusche. Meist hat man versehentlich doch mal geschnauft und riecht sich und seine Mitmenschen mit völlig neuer Nase. Es wird alles zusammengepackt und man verabredet sich beim nächsten Fast-Food-Laden für ein Abschiedsmahl. Die ersten sauberen Spültoiletten sind befremdlich und man belächelt die vollkommen in die Zivilisation integrierten Besucher des Restaurants. Ein letztes Mal wird aus tiefstem Herzen gerülpst, dann muss man selbst den letzten Dreck abwaschen und aufs nächste Metal-Festival warten.

 

8 Kommentare zu „Zivilisationsurlaub

  1. Es ist witzig dass wenn man ein Mengenbad nimmt, nicht nur die Konturen der Körper,
    sondern irgendwie auch die Seelen miteinander verschmelzen.
    Das ist vielleicht romantisiert aber ein bisschen passiert das wirklich.
    Als ob jeder Mensch als Tropfen, gemeinsam ein Meer bildet.
    Wie Moleküle die sich miteinander verbinden um einen neuen Stoff zu bilden.
    Dann ist die Perspektive irgendwie ein bisschen verrückt, man hört auf nachzudenken und lässt sich einfach gehen. Wird teil von einem Ganzen und macht Urlaub von sich selbst.

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    1. Auf dem WGT war ich nur einmal, als dort noch mehr „meine“ Musik gespielt wurde. Aber stimmt, das war auch ähnlich. Ich bin hauptsächlich bei kleinere Metalfestivals unterwegs.

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